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Interview mit Marta Museumsdirektor Nachtigäller

Das Marta ist ein brodelndes Labor“

Roland Nachtigäller (60) ist seit 2009 Direktor des Museums Marta Herford. Der gebürtige Dortmunder („Ich bin kein eingefleischter BVB-Fan im Gegensatz zu meiner Schwester“) spricht im Interview mit Huck, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Telefonseelsorge Ostwestfalen, über aktuelle Arbeiten während der Corona-Krise, künftige Ausstellungen, Träume für die Zukunft und die Bedeutung des Standortes Herford innerhalb der deutschen Kunstszene.

Die Kunst, gut zuhören zu können, ist eine Fähigkeit, die in der Telefonseelsorge eine bedeutende Rolle spielt. Welche Fähigkeiten muss der Marta-Direktor aufbringen, um Interesse beim Publikum zu bewirken?

Roland Nachtigäller: Es sind ähnliche Kompetenzen. Auch in meinem Metier ist das aufmerksame Zuhören ganz wichtig. Der erste Schritt für eine Ausstellung ist, mit der Künstlerin oder dem Künstler in Kontakt zu kommen. Ich muss herausfinden, was ihr oder ihm wichtig ist. Künstler*innen sind allerdings nicht unbedingt diejenigen, die die Dinge sofort auf den Punkt bringen. Ich muss ein wenig sortieren. In meiner Funktion als Direktor bin ich gefordert, als Erklärer und Vermittler zwischen dem Publikum und den Kunstschaffenden tätig zu sein. Ich muss also ein gutes Gespür dafür haben, wo diejenigen stehen, die uns gerade zuhören und die Kunst anschauen.

Ist bei der Planung eines neuen Projektes zuerst die Idee oder die Künstlerin/der Künstler vorhanden?

Roland Nachtigäller: Das hängt mit der Arbeitsweise zusammen, wie wir vorgehen. Im Marta habe ich mich für ein Programm entschieden, das sehr stark themenorientiert ist. In den meisten Fällen ist zuerst eine Idee vorhanden. Letztlich besteht unsere Hauptarbeit im Vorfeld darin, die Antennen aufzustellen und auszurichten. Wir besuchen viele Ateliers und Ausstellungen. Dort spüren wir, was gerade Tendenzen und Themen sind. Das macht sich an künstlerischen Werken fest, die im Kopf hängen bleiben. Wächst eine Idee langsam zu einem konkreten Ausstellungsprojekt heran, haben wir dann schon Werke in Kopf, die den Jahren zuvor entdeckt wurden. Verhindert werden muss aber auch, Kunstwerke als Argumentationshilfen zu instrumentalisieren. Es geht am Ende immer noch um das einzelne Werk und nicht um die These, die wir präsentieren wollen.

Auf welche Ausstellungsformate nach dem aktuellen Programm „Glas und Beton“ können wir uns freuen?

Roland Nachtigäller: Bereits in diesem Jahr sollte eine Ausstellung, die im Bereich Mode und Fashion angesiedelt ist, an den Start gehen. Corona machte uns aber einen Strich durch die Rechnung. Es hatte aber den schönen Nebeneffekt, dass wir in der Detailplanung neu einsteigen konnten und die Gewichtungen veränderten. Es ist eine Ausstellung, die sich am Anfang ganz bewusst dagegen verwehrt hat, die verschiedenen Modedesigner*innen und Kleidungsstücke zu zeigen. Es gilt, vielmehr zu schauen, wofür steht Kleidung, welche Symboliken transportiert sie. Uns interessieren Fragen, wie wir mit Mode umgehen und wie Künstler*innen diese Fragen in ihren Werken thematisieren. Es ist ein Projekt, das große Strahlkraft entfalten soll. Demnächst steht auch die Ausstellung des Marta-Preises der Wemhöner-Stiftung an. Sie ist bereits so gut wie fertig. Abgeschlossen ist auch die Vorbereitung des Ausstellungsprojekts „Trügerische Bilder“. Hierbei handelt es sich um ein Spiel zwischen Malerei und Fotografie, die lustvolle Täuschung unserer Wahrnehmung.

Trauer, Ängste und Wut sind unter anderem menschliche Reaktionen auf die Corona-Pandemie. Welche Bedeutung haben diese Emotionen für die Kunst?

Roland Nachtigäller: Sie haben durchaus eine große Bedeutung. Für mich ist die Frage relevant, ob es den Künstler*innen gelingt, aus einem konkreten Bezug in ihren Werken eine Allgemeingültigkeit zu entwickeln. Es ist allerdings nicht Aufgabe der Kunst, unmittelbar auf das aktuelle Tagesgeschehen zu reagieren. Das Konkrete erachte ich daher nicht für sinnvoll. Ich würde beispielsweise nächstes Jahr keine Corona-Ausstellung machen. Ich würde eher an die grundsätzlicheren Fragen gehen. Isolation, Einsamkeit, der fehlende körperliche Kontakt, das Thema der Heilung sind für mich interessanter. Wie können wir uns in Krisensituationen gegenseitig stützen? Was gibt es für Strategien über Kunstwerke und Bilder Verbindendes zu schaffen, was uns auch aus Löchern heraus holt?

Ist es förderlich, sich in Notsituationen künstlerisch abzureagieren?

Roland Nachtigäller: Das ist sehr stark von der Persönlichkeit abhängig. Für mich wäre das kein Ventil. Hilfreich war, dass ich in meinem Studium ganz bewusst Momente gehabt habe, in denen ich feststellen konnte, ob ich eher ein Künstler bin oder jemand, der mit Kunst umgehen will. Mir war schnell klar, kein Künstler zu sein. Werde ich beispielsweise mit Trauer konfrontiert, würde ich eher das Schreiben wählen. Gute Kunst entsteht für mich dann, wenn man die konkreten Erfahrungen be- und verarbeitet und sie nicht unmittelbar abbildet.

Einige Maler haben aus dem Kummer heraus zum Pinsel gegriffen und Kunstwerke geschaffen.

Roland Nachtigäller: Das kann ich mir schon vorstellen. Aber oft bleibt es dann einfach im Privaten hängen. Die Erklärung für ein Kunstwerk, in großer Trauer entstanden zu sein, finde ich als Einstieg nicht interessant – ja, sie geht mich erst einmal auch nichts an. Man muss vom Werk selbst ausgehen. Wenn dann auf der zweiten oder dritten Ebene klar wird, in einer bestimmten biographischen Situation entstanden zu sein, dann ist es vielleicht eine Facette. Es kann aber in meiner Wahrnehmung nie die tragende Säule eines Kunstwerks sein.

Wie gehen Sie persönlich mit Krisen um?

Roland Nachtigäller: Sprache ist für mich ein wichtiges Instrument. Darüber reden ist ein wichtiger Aspekt. Bewegen mich Dinge, dann gibt es den Moment, es aussprechen zu müssen. Die Telefonseelsorge ist deshalb auch ein extrem wichtiger Bestandteil des Alltags. Es ist wichtig, dass Menschen aus der Anonymität und Neutralität heraus Zuhörer*innen sein können und nur für mich da sind. Es ist ein existenziell wichtiger Aspekt in unserer Gesellschaft.

Wie sind Sie durch die Corona-Zeit gekommen?

Roland Nachtigäller: Als Leiter der Institution Marta konnte ich nicht unmittelbar in den Lockdown gehen. Wir hatten Betriebsferien und Kurzarbeit. Das war eine höchst arbeitsintensive Zeit für mich. Ich war Sekretär, Hausmeister und Direktor in einer Person. Privat erlebe ich Corona auch als eine interessante Phase (glücklicherweise bin ich gesund!), man ist stärker auf sich selbst zurückgeworfen. Man hat in diesem Sommer kaum Urlaub gemacht. Man blieb im eigenen Garten. Das waren ganz neue Perspektiven auf das eigene Leben. In der Kunstszene entsteht gerade eine Diskussion darüber, wie wir über Jahre hinweg zu Rassismus, Nachhaltigkeit und Globalisierung kritische Ausstellungen machen, aber als Kunstbetrieb extrem klimafeindlich, ressourcenfressend und auch gedankenlos unterwegs sind. So kann es nicht weitergehen. Diesen Ansatz übertrage ich auch auf mein privates Leben. Wir sollten neu beurteilen, wie wir leben wollen. Die Corona-Krise ist nicht etwas, wo ich sagen würde, wie nach 9/11 wird die Welt nie wieder so sein wie vorher. Es ist aber eine Chance, das Leben stärker im Blick zu behalten. Wir sollten uns mehr damit auseinandersetzen, was es eigentlich heißt, in einem solch wohlhabenden Land zu leben und trotzdem nicht alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die sich uns bieten.

Welche Bedeutung hat das Marta in der deutschen Kunst- und Kulturlandschaft?

Roland Nachtigäller: Es ist schwierig, das selber einzuschätzen, weil es so nach Eigenmarketing klingt. Wir dürfen dennoch mit Selbstbewusstsein sagen, eines der führenden Museen für zeitgenössische Kunst nicht nur in Deutschland zu sein. Wir werden sehr intensiv wahrgenommen und sind weit über den lokalen Kreis hinaus bedeutsam. Über 70 Prozent der Besuchenden haben eine weite Anreise auf sich genommen. Das ist Chance und auch Verpflichtung. Wir sind aber zugleich auch in Herford verwurzelt. Das macht es nicht nur komplexer, sondern auch schön. Wir haben verschiedene Ebenen, auf denen wir spielen. Es ist ein ganz wichtiges Standbein des Museums, darauf zu achten, dass dieses große nationale und internationale Renommee eher noch steigt, denn gehalten wird. Angefangen haben wir mit neun bis zwölf Ausstellungen pro Jahr. Das war eine unglaubliche Maschinerie, die hier lief, um die Aufmerksamkeit auf diesen neuen Ausstellungsort zu lenken. Mittlerweile fokussieren wir uns mehr, produzieren weniger, aber umfassendere Projekte.

Die Wahl 2014 zum Museum des Jahres war sicherlich ein Ritterschlag für das Marta?

Roland Nachtigäller: Absolut. Wir tauchten plötzlich in den Tagesthemen auf. Aber daraus entsteht auch eine Verpflichtung.

Wie groß ist das Interesse des Auslands am Marta?

Roland Nachtigäller: Es gibt sehr viele Niederländer*innen, die unser Museum kennen und besuchen. Sie sind oft mobiler als die Deutschen und machen gern beispielsweise von ihrem Camping-Standort einen Abstecher nach Herford. In Belgien ist das Interesse ähnlich groß. Aber die Besucherströme reichen bis hin nach China und den USA.

Ihr Vertrag läuft noch bis Ende 2021. Welche Träume und Pläne wollen Sie bis dahin noch realisieren?

Roland Nachtigäller: Ich träume eigentlich immer davon, Dinge zu realisieren und zu entwickeln, die es vorher noch nicht gegeben hat. Was wir in diesem Jahr begonnen haben und im März radikal ausgebremst wurde, war eine solche Idee: Im 15. Jahr wollten wir das Marta an vielen Stellen noch einmal ganz zu erfinden. Die größte Herausforderung der nächsten Jahre besteht darin, mehr noch als bisher zu einem wichtigen und in gewisser Weise selbstverständlichen Ort der Freizeitgestaltung der Menschen zu werden. Die Nutzung von Museumsräumen als soziale Begegnungsorte ist noch lange nicht ausgereizt. Wir sind dabei, Konzepte zu entwickeln, komplette Strukturen zu verändern, um das Museum neu zu definieren. Das ist hoch gegriffen. Aber eben ein Traum.

Könnte für Sie eine Tätigkeit in einer Metropole wie New York, Berlin oder London nicht besonders reizvoll sein?

Roland Nachtigäller: Zu Beginn meiner Tätigkeit in Herford habe ich gesagt, dass die Peripherie genauso spannend ist wie die Metropolen dieser Welt. Diese Aussage gilt heute noch mehr als 2009. Die großen Zentren haben ihre eigenen Bewegungen. Wir haben es in London gesehen, gerade sehen wir es in Berlin. Es sind Hotspots, die zu touristischen und wirtschaftlichen Attraktionspunkten und letztlich brutal ausgebeutet werden. Am Ende ist jeder Freiraum durchgearbeitet, gestaltet oder vermarktet. Dann sind die Besucher*innen plötzlich enttäuscht, dass sie „das Ursprüngliche“, den Kiez nicht mehr finden und kehren sich ab auf der Suche nach einem neuen Hotspot. Kunst entsteht dort am besten, wo die Strukturen noch offen sind. Es darf nicht alles ausdefiniert sein. Wir brauchen Brachgrundstücke, wo Künstler*innen sagen: „Es gibt kein Geld und keine Galerie, es gibt nur mich und ich mach’ was daraus.“ Ist hingegen alles durchorganisiert, gibt es keine Bewegungsräume mehr. Dann sucht man nämlich zwangsläufig neue Räume. Periphere Orte wie Herford sind dabei viel stärker aufgestellt, weil sie noch nicht so durchdefiniert sind. Und weil sie nicht so einen Repräsentationsdruck haben. Herford muss nur für sich gut bestehen, aber nicht für Deutschland die kulturelle Hauptstadt darstellen. In Herford können wir frecher, offensiver und experimenteller vorgehen. Das Marta ist ein brodelndes Labor, in dem neue Dinge entwickelt werden, die Besucher*innen anlocken. Mit jeder Aktion müssen wir immer wieder die Frage beantworten: Warum sollte ich deshalb nach Herford fahren? Den Grund dafür müssen wir bei jedem Projekt finden und liefern.

Herr Nachtigäller, ich bedanke mich für das Gespräch.