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„Nachts genieße ich die Einsamkeit“

Santy, so sein Deckname, ist ein alter Hase bei der TelefonSeelsorge Ostwestfalen. Der 71- Jährige greift seit 2011 zum Telefonhörer. Im Gespräch mit seinem Kollegen Huck erzählt Santy von seinen Anfängen in der TS, seinen Erfahrungen als Nachtarbeiter, seinen Verbesserungsvorschlägen und seiner persönlichen Entwicklung durch die Mitarbeit in der TS.

Wie bist Du zur TelefonSeelsorge gekommen?

Santy: Anfang 50 hatte ich das Gefühl, es müsse doch noch etwas anderes kommen. Eher zufällig habe ich ein Gespräch innerhalb eines Seminars mit einem Experten über NLP geführt, was mich faszinierte. Die Neugierde war geweckt und ich begann eine Ausbildung in NLP. Das war der Wendepunkt. Danach hat sich für mich Vieles geändert. Ich begann andere Bücher zu lesen, nahm an unterschiedlichen Ausbildungen und Seminaren teil. Ich bin mutiger geworden, meine Gefühle zuzulassen und zu entdecken. Ein wenig später entdeckte meine Frau in der Zeitung einen Bericht, dass die Telefonseelsorge einen neuen Ausbildungskurs anbietet. Nach einem erfolgreichen Vorstellungsgespräch wurde ich dann 2011 genommen. Es folgte eine intensive, für mich sehr wichtige Ausbildung.

Warum arbeitest Du fast ausschließlich nachts?

Santy: Vor meiner Verrentung habe ich auch tagsüber Dienste geleistet. Danach arbeite ich vorwiegend nachts. Ich komme dann besser mit meinen anderen Terminen klar. Nachtarbeit in der TS gefällt mir gut, weil ich wirklich Ruhe habe. Niemand ist mehr da. Ich genieße diese Einsamkeit.

Fühlst Du Dich durch die häufige Nachtarbeit wie Jürgen Domian vom WDR? Bist Du der Domian der TS Ostwestfalen?

Santy: Überhaupt nicht. Wenn ich ein wenig schlafen kann, habe ich auch am nächsten Tag keine Schwierigkeiten. Ich schaffe es aber auch, ohne Schlaf durch zu kommen. Ich habe den großen Vorteil, dass ich in jeder Stellung, an jedem Ort, sofort schlafen kann. Nachts gibt es oft ruhige Zeiten. Zwischen Vier und Sechs passiert häufig nicht viel. Dann nicke ich ein.

Und was passiert dann, wenn Du morgens nach Hause kommst?

Santy: Es ist unterschiedlich. Manchmal bin ich sehr müde, so dass ich bei der Heimfahrt das Fenster meines Autos öffne. Manchmal fahre ich aber laut singend nach Hause, wenn ich ein Teil von guten Gesprächen gewesen war. Daheim frühstücke ich erst einmal und gehe dann ins Bett. Gegen 13 Uhr stehe ich auf und widme mich dann den Dingen, die an diesem Tag anstehen.

Sind die Gesprächsthemen nachts spezieller als tagsüber?

Santy: Eigentlich nicht. Nur wenn es dunkel ist, rufen mehr Menschen nach Panikattacken an, die sich nach ihren Träumen einstellen. Das hat man tagsüber nicht. Oft sind die Gespräche auch kürzer. 15 bis 20 Minuten. Dann haben sich die Menschen wieder beruhigt. Partnerschaftsprobleme tauchen häufig in der zweiten Nachthälfte auf. Auch viele regelmäßige Anrufer melden sich. Scherzanrufe kommen so gut wie gar nicht mehr vor. An- und Betrunkene rufen natürlich nachts häufiger an. Ich wimmele sie nicht ab. Manche Gespräche erweisen sich durchaus als interessant.

 

Kannst Du Kolleginnen und Kollegen verstehen, die höchst ungern Nachtschichten machen? Santy: Kann ich gut verstehen. Ich habe das große Glück, dass ich in jeder Situation schlafen kann. Zudem passt Nachtarbeit in der TS optimal in mein Lebensmodell. Andere haben große Schwierigkeiten mit der Nachtarbeit und sind noch Tage danach gerädert.

Welche Verbesserungsmöglichkeiten bei der täglichen TS-Arbeit siehst Du?

Santy: Von der Leitung finde ich alles in Ordnung. Manchmal würde ich mir wünschen, dass es vor allem in den Reflektionsgruppen noch ein wenig tiefer gehen würde. Das ist aber eine Sache von uns Teilnehmern, wie weit bereit wir sind, uns zu öffnen. Ich sage stets, nutzt doch die Gruppe.  Wenn ich mir beispielsweise für ein Thema eine Supervision einkaufen müsste, müsste ich 100 oder 200 Euro bezahlen. In der TS habe ich in der Regel alle 14 Tage und jetzt in der Coronazeit alle vier Wochen die Gelegenheit, zum Nulltarif gedankliche Anregungen zu erhalten. Was Besseres kann mir doch gar nicht passieren. Diese Gruppen sind für mich daher ein wichtiger Grund, weshalb ich bei der TS bin.

Was bringt Dir die TS-Arbeit?

Santy: Ganz wichtig ist mir ein immer besseres Selbsterkennen und neu zu erleben, sich in andere Menschen einzufühlen. Früher hatte ich wenig Geduld. Jetzt attestiert man mir, sehr viel Geduld zu haben. Mein längstes Schweigegespräch dauerte 45 Minuten. Früher hätte ich mir dies nie vorstellen können. Auch wenn nichts gesagt wird, versuche ich zu hören. Mein Fazit: Bei der TS sehe ich für mich unheimliche Vorteile. Ich gewinne wahnsinnig viel.

Unter anderem: Mitgefühl, Verständnis für anders fühlende und denkende Menschen, Geduld und vor allem lerne ich mich immer wieder neu kennen mit meinen Fähigkeiten und Grenzen.

Du hast den Decknamen Santy. Was verbirgt sich dahinter?

Santy: Ich war einige Male in Afrika und habe einmal eine Sahara-Durchquerung mit Pkw‘s mitgemacht. Santy ist ein senegalesischer Freund, den ich damals kennengelernt habe. Der Name Santy fiel mir dann ganz spontan ein, als ich einen Decknamen benennen musste.