Herr Huneke, was macht eigentlich ein Superintendent?
Andreas Huneke: Zuhören, Reden, Planen, Beraten, Organisieren, Netzwerke schaffen und pflegen, Konflikte begleiten, die kirchlichen Ebenen von der Kirchengemeinde bis zur Landeskirche verbinden, Kontakte zu Kommunen, Landkreisen und zum Land pflegen. Es gibt aber auch alltägliche Tätigkeiten. Ich muss viele Rechnungen und Verträge unterschreiben und Beschlüsse der Presbyterien und der Landeskirche zur Kenntnis nehmen und weiterleiten. Das ist Teil des Tagesgeschäfts. Zum Kirchenkreis Vlotho gehören Teile des Landkreises Herford und Teile des Landkreises Minden/Lübbecke sowie die ganze Stadt Bad Oeynhausen bis auf Bergkirchen, Porta Westfalica Süd, ein Teil von Löhne und die Stadt Vlotho.
Welche Rolle nimmt die Telefonseelsorge im Rahmen des Kirchenkreises Vlotho ein?
Andreas Huneke: Die gesamten ostwestfälischen Kirchenkreise tragen die Telefonseelsorge Ostwestfalen mit Sitz in Bad Oeynhausen. Die Telefonseelsorge ist für mich ein wichtiger Bestandteil unseres Kirchenkreisverbandes. Ich bin froh, dass wir es gemeinsam machen, weil die ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter aus diesem großen Bereich kommen. Der Kirchenkreis Vlotho spielt hierbei eine besondere Rolle, weil der Sitz der Telefonseelsorge immer in Bad Oeynhausen war.
Mitte Oktober 2004 haben Sie Ihre Tätigkeit als Superintendent aufgenommen. Im Januar 2021 gehen Sie in den Ruhestand. Wie hat sich die Gesellschaft im Verhältnis zur Kirche in diesem Zeitraum verändert?
Andreas Huneke: Die Gesellschaft hat auch in unserem sehr kirchlich geprägten nördlichen Ostwestfalen an Bedeutung verloren. In den 16 Jahren konnte ich deutlich wahrnehmen, dass kirchliche Belange in der Öffentlichkeit schwerer zu vertreten sind. Den Kirchen wird nicht mehr ein so hoher Bedeutungsspielraum zugemessen. Gleichwohl sind wir aber immer noch wichtig. Wir sind ein bedeutender Ansprechpartner für Kommunen und Landkreise in vielen Fragen, weil wir eine große Bevölkerungsgruppe repräsentieren. Wir stellen etwa noch 50 Prozent der Wohnbevölkerung. In meiner Kindheit waren es aber noch 90 Prozent. Allein von der Zahlenverschiebung hat sich ein Bedeutungsverlust ergeben. Im kirchlichen Leben hat sich daher ein unglaublicher Wandel vollzogen. Während früher Amtshandlungen wie Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen völlig obligatorisch waren, stehen sie für viele Menschen heute nicht mehr an erster Stelle. Viele Menschen sind aus der Kirche ausgetreten, haben den Kontakt von sich aus abgebrochen. Sie betrachten es als eine Möglichkeit, Steuern zu sparen, da die Beziehung zur Kirchengemeinde ohnehin nicht stark ist. Das sind gravierende Veränderungen.
Wohin führt der Weg der Kirche?
Andreas Huneke: Die Kirchen werden kleiner. Das bedeutet aber nicht, dass sie zwingend weniger lebendig sind. Die Seelsorgedienste haben sich außerordentlich positiv entwickelt. Sie laufen sehr stabil und werden gut angenommen. Sie werden jedoch von viel weniger Menschen getragen werden müssen. Die Frage der Finanzierung spielt hierbei eine große Rolle. Die Teilnahme an den Gottesdiensten ist stark zurückgegangen. Die Aktivitäten der Kirchen in Gruppen und Kreisen sind ebenfalls eingebrochen. Die seniorenbezogenen Gruppen gehen noch am besten. Nur bei den Jüngeren ist es schwierig, obwohl wir uns im Kindergartenbereich stark engagieren, sowohl finanziell als auch personell. Viele Eltern sind nicht über den Kindergartenbereich hinaus für weitere kirchliche Aktivitäten zu gewinnen.
Können Sie einige Vergleichszahlen nennen, wie sich der Kirchenkreis Vlotho in den vergangenen 16 Jahren verändert hat?
Andreas Huneke: Aktuell haben wir 22,5 Pfarrstellen. Als ich anfing, waren es 34. Wir haben jetzt 54.000 Gemeindemitglieder, in den 70er-Jahren waren es mal 90.000. Wir haben die Pfarrstellen somit an die Gemeindemitglieder angepasst. Wir haben aber auch Schul- und Klinik-Pfarrstellen geschaffen, da in diesen Bereichen ein Bedarf entstanden ist. Theologische Kompetenz ist somit in das praktische Leben eingebracht worden. Die Kirchengemeinde kann sicherlich nicht allein die Bedürfnisse der Menschen befriedigen. Wir brauchen dazu zusätzliche Dienste.
Welche neuen Wege muss die Kirche bei geringer werdenden Einnahmen gehen?
Andreas Huneke: Die wirtschaftlichen Einbrüche durch die Corona-Krise werden uns als Kirche erheblich treffen. Die Schätzungen liegen zwischen 10 und 25 Prozent weniger Kirchensteuereinnahmen. Das ist so viel, dass das auf Dauer ohne gravierende Einschnitte überhaupt nicht aufzufangen ist. In unserem Kirchenkreis haben wir immer eine solide Finanzwirtschaft gehabt. Die pflichtgemäß zu bildenden Rücklagen haben wir stets angelegt, so dass wir Notzeiten eine Zeit lang überbrücken können. Aber es gibt Grenzen. Wenn wir mit weniger Geld bestimmte Aufgaben machen, leidet schnell die Qualität. Das wäre fatal für die Zukunft der Kirche. Wir müssen uns statt dessen eher entscheiden, Dinge zu lassen. Und bei den Dingen, die wir machen, die Qualität sichern. Wir müssen abspecken. Unser Angebot muss reduziert werden, Gebäudebestände müssen verringert werden, Personalbestände fokussieren und die verbleibenden Aufgaben in einer hohen Qualität verrichten. Die Ansprüche der Menschen sind sehr viel individualistischer geworden. Die persönlichen Erwartungen an Angebote sind das allein Seligmachende. Was die Mehrheit will, spielt keine große Rolle mehr. Das stellt uns vor riesengroße Herausforderungen. Man kann heute kein Gottesdienstangebot mehr ohne deutliche Akzentuierungen machen. Das hat z. B. zur Folge, dass einige nach Hause gehen und sagen, das ist für mich kein Gottesdienst, während andere hellauf begeistert sind. Da ist auch der Gegensatz zwischen Alt und Jung. Gravierend sind auch kulturell bedingte Gegensätze. Die Musik spielt eine große Rolle. Klassische Musik ist ein Spartensegment. Sie pflegen wir in der Kirche zu Recht, da wir in diesem Bereich sehr stark sind. Damit erreichen wir aber ganz wenige Menschen. Mehrheiten erreichen wir mit anderen Musikfarben. Da arbeiten wir an eine größeren Vielfalt.
In den vergangenen zwei Monaten hatten Sie mit zwei heißen Eisen zu kämpfen. Pfarrer Jörg-Uwe Pehle in Vlotho wurde nach seinem Outing, homosexuell zu sein, von vielen Menschen gemobbt und diskriminiert. Auch die Wegsperrung eines Behinderten im Wittekindshof über einen längeren Zeitraum sorgte für Schlagzeilen. Wie gehen Sie mit solchen gravierenden Problemfällen um?
Andreas Huneke: Ich versuche, in beiden Fällen möglichst nüchtern und sachlich zu bleiben und hole mir Rat von außen ein. Damit mache ich mich auch von meinen eigenen Emotionen frei. Im Fall Pfarrer Pehle bin ich unmittelbar als Dienstvorgesetzter gefragt gewesen. Es ist für mich eine einfache Geschichte, da ich mich emotional nicht verklemmt fühle. Schwieriger ist der Wittekindshoffall, da die Größenordnung extrem ist. Ich als Stiftungsratsvorsitzender bin von den konkreten Geschehnissen, die mich sehr betroffen gemacht haben, auch weit entfernt. Möglicherweise sind dort Dinge passiert, die ich auch nicht gut finde. Aber die Verfahren laufen noch. Es handelt sich um eine erschreckende Angelegenheit, die viele Mitarbeiter betrifft. Dieser Fall hat mich deutlich belastet und ich bin sehr an einer konsequenten Aufklärung interessiert.
Was haben Sie sich für Ihren Ruhestand vorgenommen?
Andreas Huneke: Ich habe eine Enkeltochter, mit der ich in Zukunft mehr spielen kann. Ich bekomme wieder Zeit zum Gitarre spielen und habe große Lust dazu. Ich freue mich auf die Pflege von Sozialkontakten, die arbeitsbedingt bisher zu kurz kamen. Ich reise gerne und bleibe dem Wittekindshof verbunden und bleibe ehrenamtlicher Stiftungsratsvorsitzender. Vor Langweile habe ich daher keine Angst. Ich bin ein Mensch, der es aber auch sehr genießen kann, einfach in der Ecke zu sitzen und dösig zu kieken und nichts zu machen. Auch das war mir 16 Jahre lang kaum möglich. Eine Krebserkrankung vor drei Jahren hat mich im Job ruhiger werden lassen. Sie hat mir beigebracht, dass ich meinen bis dahin üblichen Termintakt nicht mehr folgen kann. Morgens fange ich später an, weil ich Zeit für meinen Sport benötige, sonst macht mein Körper keinen vollen Arbeitstag mit. Das war eine heilsame Erfahrung.
Haben Sie während Ihrer Krebserkrankung mit dem Gedanken gespielt, die Telefonseelsorge um Rat zu fragen?
Andreas Huneke: Verzweifelt war ich in dieser Phase nie, weil ich so viele Menschen um mich herum hatte, die ganz sensibel und freundlich mir zugewandt waren und sich um mich gekümmert hatten. Ist das persönliche Umfeld aber nicht so gut, kann es schon sehr schwer werden, mit solchen Situationen allein fertig zu werden. Es ist schon eine radikale Umstellung, sich plötzlich mit der eigenen Endlichkeit beschäftigen zu müssen, selbst wenn die Prognose günstig ist. Die Frage nach dem eigenen Sterben ist eine andere als die nach dem Sterben anderer.
Herr Huneke, ich bedanke mich für das Gespräch.